Lyra & Hemlock – ein Märchen

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Es war einmal in den endlosen Wäldern Kanadas eine majestätische Tanne namens Hemlock. Sie ragte hoch in den Himmel, ihre Äste und Wurzeln streckten sich weit und tief aus, als ob sie die ganze Erde umarmen wolle. Hemlock war keine gewöhnliche Tanne – sie war gesegnet mit der besonderen Gabe sich mit Tierwesen und Menschenkindern zu verständigen.

Eines Tages kam Lyra eine weise Heilerin des Weges. Sie nahm die besondere Gabe dieses Tannenwesens wahr und begann ein tiefgründiges Gespräch. Sie erzählte Lyra von ihrer Berufung, die Menschenkinder an ihr wirkliches inneres strahlendes (= göttliches) Wesen zu erinnern.

Lyra verspürte sofort den innigen Wunsch die Samen von Hemlock in die weite Welt tragen zu dürfen, damit viele andere in den Genuss ihres Segens auf der Erde kamen. Hemlock war entzückt von ihrem Wunsch und ließ vor Rührung ihre Äste erzittern, so dass kleine Zapfen zu Boden rieselten.

So geschah es, dass Lyra mit den zukünftigen Nachkommen von Hemlock über die großen Wasser nach Europa segelte. Sie vergrub die Samen an Kraftplätzen, sprach jeden Tag bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang mit ihnen, pflegte sie und wachte viele Erdenjahre über ihr Wohlergehen bis sie stark genug und groß waren ihre Aufgabe zu erfüllen. Lyras Sternenweisheit verschmolz auf diesem Wege mit der feinsinnigen Gabe der Nachkommen von Hemlock.

Jeden Tag, wenn die Sonne über den Baumwipfeln aufging, begrüßte Lyra alle Wesen mit ihrem Gesang und ihren Harfenklängen voller Dankbarkeit im Herzen. Sie visualisierte die Meridianpunkte des Planeten TerrAmor und verband sich mit ihren engen Verbündeten, den Tannenwesen, die gleichsam Antennen und Verstärker für die lichtvollen Schwingungen waren. Die gigantischen Klang- und Lichtwellen übertrugen sich, fanden Widerhall im Gesang der Vögel und Hemlocks Nachkommen antworteten mit einem sanften Rauschen ihrer Nadeln. Jene Wesen, die zu hören und fühlen vermochten, nahmen diese Kräfte wahr.

Hemlock lebte nunmehr seit 800 Jahren, sie hörte den Tieren zu, die durch den Wald streiften und den Menschenkindern, die an ihr vorbeigingen. Eines Tages, als das dunkle Zeitalter der Schatten begann, spürte sie, dass mehr aus den Fugen geraten war als je zuvor. Die Menschenkinder zitterten innerlich vor Angst und viele Tiere waren unruhig geworden. Hemlock vernahm das besorgte Flüstern der Eichhörnchen, die an ihrem stattlichen Stamm hochkletterten und das Klagen der Füchse in der Ferne. Die Zeit war gekommen Lyra zu sich zu rufen.

Entschlossen, herauszufinden, was vor sich ging, fragte Lyra Hemlock und die Tierwesen um Rat. Eine Eule erzählte ihr von einem alten Fluch, der über TerrAmor gelegt worden war – ein Fluch der Dunkelheit, der das Licht des Bewusstseins gefangen hielt und viele Menschenwesen in ewige Schatten hüllte.

Lyra wusste, dass die Zeit gekommen war und so beschloss sie, sich auf eine gefährliche Reise in ihr Innerstes zu begeben, um den Fluch zu brechen. Sie richtete sich ihr Lager an der Seite von Hemlock ein, die ihr mit ihren Zweigen ein Dach flocht und begann mit ihrer Harfe Klangwolken zu schaffen. Lyra fiel in eine leichte Trance und während ihrer Reise in ihre inneren Welten traf sie auf viele Gefahren: wilde Gedankenstürme voller Urteile, eisige panikartige Angstflüsse und finstere klebrige Emotionsschatten, die versuchten sie von ihrem Weg abzubringen. Doch Lyra gab nicht auf. Sie kämpfte sehr lange mit all ihrer inneren Entschlossenheit gegen ihre wilden Gedankenkräfte und versuchte ihre Emotionen zu zähmen.

Doch all ihr Kampf führte zu nichts, so dass sie zusammenbrach und nur noch Sturzbäche weinte. Lyras Tränen wurden zu einem diamantenen Fluss der Demut und Hingabe, sie gab allen Widerstand gegen ihre Feinde im Inneren auf und atmete tief ein- und aus. Sie nahm wahr, welche Dämonen in ihr tobten. Dieser Erkenntnisprozess dauerte viele Leben in vielen Zeitlinien. Irgendwann befreundete sie sich mit den Dämonen der Wut, des Neides und allem, was auftauchte.

Schließlich erreichte sie den Ursprung aller Schatten, das Ego, welches einen ruhelosen Verstand nährte. Es verbarg sich in einer dunklen kalten Höhle, bewacht von einem mächtigen Eisdrachen. Lyra zögerte keinen Moment und trat mutig vor, bereit, ihr Erdenleben völlig dem Licht des Bewusstseins zu opfern, auch wenn dabei ihre menschliche Hülle verloren wäre. Sie war endlich am Ende ihrer Reise angekommen. Doch als der Eisdrache sie erspähte, glühten seine eisblauen Augen und sprühten gleißende Funken. Er spürte er die Reinheit ihres Herzens und die Stärke ihres Willens, welche Lyra ganz dem Einen Licht – der Urquelle allen Seins untergeordnet hatte. Der Eisdrache fühlte, dass sie ihn erlösen konnte mit der Glut ihres reinen Herzens. Lyra war eine Eingeweihte jenes Schatzes – der Einen Quelle, die er bewachte. Davor musste jeder Aspirant endgültig den eigenen Schatten durch das Licht seines Bewusstseins erlöst haben, indem er das Ego erkannte als Teil seines Selbst.

Mit einem mächtigen Brüllen vermochte der Funken sprühende Eisdrache die dunklen Schatten des spaltenden Egos, welche Lyra so viele Jahre beherrscht hatten, aufzulösen. Die Erschütterung des Eisdrachen-Klanges reinigte jede Zelle in ihrem menschlichen Leib, der so viele Planetenjahre gefangen gewesen war. Ein reißender unaufhaltsamer Fluss der Dankbarkeit strömte durch Lyra und verschmolz mit dem Namenlosen Sein.

Die Blumenwesen erblühten in den schönsten Farben, die Vögel sangen ihr erhabenstes Lied und alle Wesen jubelten vor Freude. Lyra wurde als Heldin gefeiert und der Eisdrache wurde in den Liedern der Barden für immer verewigt.

Von diesem Tag an wurde Lyra zu einem Symbol für Tapferkeit, Güte und die unerschütterliche Gewissheit, dass selbst die dunkelsten Zeiten überwunden werden, wenn man nur mutig genug ist, die eigenen Schatten im Inneren anzuschauen und sich als das Licht des ewigen Lichtes zu erkennen. Und so lebte sie glücklich und erfüllt bis ans Ende ihrer Zeit auf TerrAmor an der Seite von Hemlock und dem Eisdrachen.

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