Wassertropfenweisheit

Veröffentlicht von

Eine Erinnerung an meinen Ursprung erfüllt mich während meine wässrige Natur sich zu einem Tropfen verdichtet und auf ein Blatt schwebt. Aus einer Wolke geboren, begleiten mich viele der meinen auf dem Weg hinab. Dort verschmelzen wir Wolkenkinder mit dem Naturreich, um Pflanzen-, Tier- und Erdwesen mit unserem Sein zu nähren.

Als eine Horde Wolkenkinder fallen wir auf große Flächen, werden zu Seen, lassen Flüsse und Meeresspiegel anschwellen. Gemeinsam sind wir als weiches Urelement unendlich kraftvoll.

Für dich Erdwasserwesen erscheint meine Tropfenform auf dem Blatt getrennt von meinen Wolkengeschwistern. Du siehst nur den Wassertropfen und nicht das Urelement Wasser, aus dem auch deine sterbliche Hülle überwiegend besteht. Mit deiner Geburt hast du das Gefühl der Verbundenheit mit dem Urfeld verloren. Das täuschende Gefühl des Getrenntseins löst sich im Moment deines bewussten Atmens. Dein Körper und Geist verschmilzt im Atemstrom. Es scheint ewig zu dauern bis der Tropfen den vermeindlich harten Stein alter Denkgewohnheiten aushöhlt.

Ein Wunderwesen, ein Formwandler bin ich: Schneekristall, Hagel, Nebel, Tau sind meine wässrigen Seelengefährten. Bei Hitze verdampfe ich, bei Kälte verdichte ich zu Eiskristallen oder Tau, als Regentropfen finde ich meinen Weg zurück ins Erdinnere und gehe in den Kreislauf des ewigen Seins ein, so wie dein Körper wieder zu Erde wird und dein Geist in den Urgrund zurückkehrt.

Fürs erste reise ich zu einer Quelle, damit ich als weiser Tropfen in deiner Teetasse lande und dich mit jedem Schluck daran erinnere, was für ein Wunder es ist, ein lebendiges Wesen zu sein. Meine Wasserweisheit fließt ganz von allein beim Tee trinken in dich ein. Das Wissen um die tiefe Verbundenheit mit dem Seins-Ozean erwacht in deinem Herz. Du erinnerst dich an den Kreislauf allen Seins, zu dem du Seelenwesen gehörst und lässt dabei ein Lächeln auf deinen Lippen erblühen.

In der Stille zwischen dem Ausatmen und dem erneuten Einatmen gedenkst meiner Botschaft in deiner Tasse,

ein Regentropfen

„Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muss es,
 Ewig wechselnd.“

Quelle: Goethe, J. W. Aus: Gesang der Geister über den Wassern Gedichte 1827

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert